Es ist ein Unterschied, ob eine Darstellung einer Vielfalt von Erscheinungen eine Sache, die diese Erscheinungen geben soll, erhellt oder verdeckt; und demnach also auch ebenso die Frage nach Differenziertheit ungleichartig, ob sie an eine in einer Sache bestehenden Differenz gerichtet ist, oder gegen die bloße Tatsache, dass da etwas ist, was differenziert werden sollte, eine Differenz als solche behauptet wird, die die Sache negiert, und an die Stelle der Sache ihre Zerrissenheit setzt, die sie ersetzen soll als eigentliches. Substantialität selbst ist die Behauptung einer solchen Sache, an der Erscheinungen, Differenzen und alle andern Arten Interpretationen ihre Wahrheit behaupten müssen, und dieser Begriff ist deshalb mehr als jeder andere einer Kritik ausgesetzt gewesen, besonders aber der Substantialität, die nicht auf ein zu analysierendes Element, sondern auf das Ganze gerichtet ist, dem Realismus der Ideen. Das, was ich im folgenden darstellen möchte, ist im ganzen eine Verteidigung dieses Ideenrealismus, aber motiviert auf ganz andere Weise, nämlich durch Untersuchung dessen, was als "Komplextität" von dem, wovon es Komplex sein solle, ablenkt und es verdeckt. Dazu zunächst einige politischen Bemerkungen.
Es ist in letzter Zeit zum Gemeinplatz geworden, davon zu sprechen, dass die Welt komplex sei und komplexer geworden sei, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen geben kann, dass man stets zu differenzieren habe und daher erst mit Expertise und dann nur umso distinguierter würde antworten können usw. Das verlockende dieser Aussagen ist, dass sich ihre Unwahrheit gerade hinter der Wahrheit versteckt, die auch in ihr ausgedrückt ist.
Was richtig ist, ist dass es schwer ist, die Wahrheit zu erkennen. Aber das heißt nicht, dass das, was schwer zu finden ist, auch schwer zu verstehen ist. Zwar ist dann die Begründung zu verstehen auch nichts einfaches, aber die Sache selbst doch schon. So kann es zum Beispiel höchst komplexe Fragestellungen in der Mathematik geben, z.B. in der Kohomologietheorie, für die man einiges aufwenden muss, um die Definitionen zu verstehen, deren Antwort aber so schlicht ist wie die Zahl 15 oder die Symmetrien eines Dreiecks. Komplexe Fragen können also wirklich sehr simple Lösungen haben, auch wenn sie dann nicht leicht als richtig erkannt werden können; ihre Einfachheit verhindert nicht ihre substantielle Wirklichkeit.
Ebenso ist auch eine Veränderung der Komplexität des Erfassens einer Sache sehr wohl von der Komplexität der Sache verschieden. Nur weil es etwa mehr an einer Wahl heute zu beobachten gibt als vor zwanzig Jahren, weil schlicht mehr Daten und Informationen durch ständige Kommunikation generiert werden, macht das die Sache nicht komplexer. Die eigentliche Komplexität ist schließlich, dass Millionen Bürger eine Entscheidung für sich treffen und das dann zusammen wirksam ist; und das ist ebenso komplex heute wie vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Trotzdem ist es richtig, dass das Bild komplexer ist, d.h., dass man sich weniger leicht darüber täuschen kann, das wirkliche zu verstehen, und sich dann eher darin täuschen kann, dass es nicht existiere. Cartesische Zweifel sind massenwirksam geworden, seit wir reale Substitute für täuschende Dämonen nicht nur kennen, sondern selbst erschaffen und erhofft haben.
Skeptizismus ermöglicht dann das merkwürdige Phänomen der Differenzierung ohne Differenzobjekt oder Vergleichsprädikat. Nicht in dieser oder jener Hinsicht ist das von jenem verschieden, sondern die Wahrheit selbst oder das zu betrachtende Phänomen muss differenziert werden von dem Zweifel, ob es denn, da es so vielfach sich ausdrücken kann, wirklich existiert und kein phänomenologischer Schwindel ist. Realismus, ob man ihn als naiv bezeichnet oder nicht, wird parteiisch, indem jede Realität als auf einem Grad des Realen betrachtet wird, und nicht nach der Realität die Wahrheit und der Gedanke, sondern nach dem Gedanken die Möglichkeit oder Plausibilität realer Existenz des Sachverhaltes beurteilt wird.
Wenn ich also trotz alle dem sage, dass zu einer Art Realismus zurückzukehren ist, dann nicht, um zu sagen, alle Art Skeptizismus solcher Weise wäre falsch gewesen; sondern, weil ich denke, dass solcher Skeptizismus sich selbst betrügt, wenn er nicht um einer Realität willen geschieht, und wenn er nicht die Realität, auf die er basiert, klar darstellt und als solche erkennt.
Um es deutlicher, weniger abstrahiert zu sagen: Die Art, ganz konkrete Themen wie Klimawandel, Krieg, Diskriminierung, Wahlausgänge oder Gerichtsurteile zu interpretieren, zu diskursieren, zu behaupten, es wären dass alles ganz komplexe und unverständliche Themen, ist nichts anders als eine Methode, sie zu vermeiden. Es ist richtig, dass man natürlich denjenigen, die Behauptungen aufstellen, auch skeptisch gegenüber sein sollte, ob dieses Ereignis real ist oder nicht; es ist auch richtig, dass mit der Menge von Information die Erkenntnis dieses Gesammelten schwerer ist; und auch, dass darauf dann eine Haltung zu begründen, sie wirklich zu durchdenken, etwas nicht leichtes ist, besonders, wenn es nicht vorher geschah. Aber das rechtfertigt nicht, das konkreteste als bloß gedankliches Objekt zu hypostasieren, zu betrachten, als wäre es eine Hypothese. Die Komplexität liegt hier ganz im Umgang mit der Wirklichkeit, nicht in dieser selbst. Der Umgang damit ist wirklich schwierig; aber die Welt als solche, das Reale, ist schlicht.
Von solcher Schlichtheit zeugen auch ganze Forschungsgebiete. Die ganze Psychologie ist mit ihrem Verfahren, Ereignisse als "Symptome" angenommener Komplexe zu characterisieren, eine Methode, diese Ereignisse selbst zu verdecken. Nicht der Phobiker "rationalisiert" die Angst; der Psychologie irrationalisiert sie, um nicht sehen zu müssen, dass Angst real existiert, dass es kein "Symptom" ist oder nicht notwendig ist. Pluralität als solche ist ein perfektes Beispiel dafür: sie ist nicht "komplex" oder ähnliches, wie oft von der Seite der Psychologie behauptet wird, sondern schlichte Erfahrung; komplex ist dagegen der negierende Umgang mit ihr. Komplexität und Interpretation ist die Verdrängung der Realität durch Hypostasierung zur Hypothese ihrer Beschreibung.
Das gilt selbst für abstrakteste Gedanken. Schönheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Wirklichkeit selbst werden zu bloßen Hypothesen, wenn man sie mit einer bestimmten Idee von Schönheit etc., und diese wiederum mit ihrem sprachlichen Ausdruck, der hypothetisch zu untersuchen und testen ist, verwechselt, und dann wenig überraschend feststellt, dass solch eingeschränkter Ausdruck und dessen Interpretation mehrdeutig und dunkel ist. Dass hinter der Deutung aber eine gar nicht so dunkle Sache ist, und dass man sich vielleicht mehr als eine Idee, und mehr als einen Ausdruck der Ideen leisten müsste, um so etwas wie die Wahrheit des abstrakten Seins inne haben zu können, wird denen nicht verständlich, die ständig schon das noch näher liegende der Wahrnehmung durch Analyse verdrängen. Die analytische Philosophie teilt damit mit der Psychologie ihre Abneigung zur Realität deswegen, weil sie der Beschreibung der Sache mehr traut als dieser selbst, da sie von einem behaupteten neutralen Betrachter kommt. Wer daher nun kommt (wie etwa Rorty von der analytischen Tradition, oder die Poststrukturalisten vom Strukturalismus, der ja auch eine Analysetradition ist, die eine gewisse Sprachbetrachtung zum allgemeinen Mittel der neutralen Einordnung nahm), und die Neutralität als falsch erweist, kann dahin kommen, auch die Analyse zu verwerfen, und hat dann kaum etwas als vage Ausdrücke, als reine Illokutionen ohne festen Sinn, als rein arbiträres. Darauf dann eine neue Art Realismus heraufzupfropfen, der diese Schwierigkeiten ignoriert, ist dann ebenso zwecklos; denn die dort behauptete "Realität" hat die Festigkeit nicht, die ja gerade der Stachel in der Suche nach der Wirklichkeit war.
Wenn also jede Art von Interpretation die Sache und ihre konkrete Darstellung irgendwie vermeidet, ist es dann möglich, das zu vermeiden? Nur durch weitere Interpretation, durch Interpretation der Interpretation. Aber das führt nicht zur Sache zurück, sondern nur zur Formel, dass es sie geben soll (Neuer Realismus als Theourgia Tinos). Deshalb ist das auch nicht richtig. Umgekehrt ist das wichtigere, die Realität des Umwegs einzusehen.
Wenn die hier zusammengefassen Bemerkungen eines sein sollten, dann Darstellungen des Umwegs, eine Sache zu denken. Wir alle denken, dass darin das wesentliche der Erkenntnis liegt: dass, was sich nicht direkt ausdrücken lässt, was nicht direkt sichbar ist, darin auszudrücken, dass man es in der Interpretion vermeidet und damit bezeichnet. Zugleich ist damit eine Grenze von Theorie überhaupt markiert: sie kann nicht schlicht die Sache, sie muss Gedanken ausdrücken. Im Ausdruck des Gedankens denkt sie ihn selbst nicht, sondern über ihn nach, und ist damit immer schon über ihn hinweg.
Das Denken, was über seine Sache hinweg ist, kann sich aber verschieden stilisieren, als aufhebendes oder als erinnerndes. Aufhebung (durchaus auch im Hegel'schen Sinne) ist eine Form des Umgangs mit Vergangenheit, dass ihre Realität durch ihre Zweifelhaftigkeit umgeformt wird; es ist die Behauptung, dass eine neue Wahrheit eine alte Täuschung bedeutet, dass eine letzte Wahrheit gefunden werden kann. Dagegen ist Erinnerung gerade nur eine Darstellung der Idee jenes Laufs durch die verschiedenen Elemente des Gedankens. Ich kann nur meine jeweilig aktuelle Wahrheit als letzte, ich kann sogar mein jetziges Verlangen zur Theorie nur als das einzig richtige sehen, eben weil ich daher alles andere sehe, darin hebt sich mir jetzt wirklich alles auf, aber nicht verschwindet das andere darin, oder wird aufgehoben. Sondern es spiegelt selbst wieder als ebenso erzählen- und erinnern-könnender Widerpart. Erinnerung wird, als anderes, zu etwas wirklicherem, wenn sie keine Einnerung der Wirklichkeit ist sondern Erinnerung an die Wirklichkeit, ein Wecken vom anderen Bewußtsein meiner selbst. Dieses andere, ob im andern Alter oder sogar schon in mir, ist aber Anteil der Realität, über die diese Erinnerung ist. Es ist das im Stil und Zweck ausgedrückte Hinweisen darauf, dass die Interpretation der Wirklichkeit die Vermeidung ist, sie wahrzunehmen.
Mehr als diesen Umweg - eine Sache konkret denken zu wollen, aber dann doch festgestellt zu haben, sie nur allgemein umschrieben und damit gerade in ihrer Konkretion vermieden zu haben - kann dies alles also nicht sein. Als Bewußtsein davon aber könnte sie methodisch mehr sein; sie könnte, als Hinweis darauf, dass die Methode einem Willen, und der Wille einem Objekt verpflichtet ist, vielleicht sogar dies in sich ausdrücken, dass selbst noch der Zweifel an der Existenz einer Sache dies ihr bestätigt, dass sie echte Realität ist, wovon die Hypothese handelt, die sie bestreitend sie referiert. Noch in der nominalistischen Ablehnung des abstrakten Essentien als nicht-notwendig sind sie Streitpunkt; und noch als "Symptom" von Person und Gesellschaft sind Krisen der Ausdruck davon, dass die Substanz fortbesteht. Die Phänomene selbst retten in ihrer Rettung ihre Nooumena, auch da, wo sie von ihnen falsche sind.
(Man könnte das ganze also auch abkürzen damit, dass ich erst durch das Herumreden um eine Sache sie versteh', und deshalb so viel davon reden machen muss, aber wenn ich's nicht täte, eben dann auch nicht weiß, was ich sage; aber das wäre eben zu kurz gesagt. Selbst für die Darstellung des Umwegs, und seines Korrelats, der Notwendigkeit, ist dieser Umweg das einzig mögliche, seine substantielle Realität zu treffen; erst in fragmentarischer Übersicht, und systematischer Verbindung, wird es insgesamt zum Element einer Idee, die eine Übersicht ihrer selbst darin gestattet, nicht mehr, sondern weniger als das ganze zu sein, nämlich das Zugrundeliegende, was weniger ist als alles, was darauf gedanklich gebaut worden, gerade dann, wenn man es nicht verstehen kann, wenn es sich als methodisch aktives entzieht. Dies ist, im Nachgang zur ersten Rechtfertigung am Anfang, die zweite, warum das Ganze des Ganzen nicht gelung: weil eben dann es keine Darstellung seiner wäre, sondern eines Teils eines andern Ganzen, das Ganze vorwegnehmend (und dann vollends falsch) vorzudenken.)