Das Exklusive der Inklusion, oder über die Distanz zur Gesellschaft als Kraft in ihr.

Ein Beitrag zur Theorie der Gesellschaft als eines Mediums der Missverständnisse. Hypatia von Sva vom Abend über den Morgen am 26.04.24 geschrieben.

Das folgende ist sicher mehr polemisch als rein sachlich zu nehmen, was aber nichts über die Ernsthaftigkeit des darin behaupteten, als vielmehr über den Unernst der Dinge sagt, über die ich mich auszulassen genötigt sehe, und die auch eine allgemeine Situation darstellen, der man sich schwer entziehen kann.

Immer, wenn über Gesellschaft im weitesten Sinne geredet wird, gibt es die Möglichkeit, diese in zwei ganz verschiednen Modi der Beschäftigung anzuschauen: dem des Beteiligten oder des Entsetzten. Beteiligung - oder, wie man im fordernden Sinne sagen kann, Integration - ist Realität oder Wunsch einer Beziehung, die positiv gedacht wird. Integration in die oder in der Gesellschaft ist Zustand von Person oder System, irgendwie zusammenzupassen, zu funktionieren. Es herrscht hier die allgemeine Annahme, dieses Funktionieren wäre eine gute Sache, würde gut sein. Dem Leben gilt damit ein absolutes Vorurteil; Positivismus der Überlebenden und gerade so überleben-wollenden wiegt schwer. Dem kann man wohl auch schwerlich widersprechen, wenn es um die sachlichen Fragen geht - denn diese Fragen setzen ja die Sache und damit das Ziel bereits voraus. Das soziale Feld als solches hat die Struktur, auf Sozialität angelegt zu sein. Und demnach hat derjenige, der sich mit dem "Sozialen" im weitesten Sinne befasst, immer auch die Angewohnheit, seinesgleichen gefallen zu wollen, das Soziale zu tun und zu wollen; da eben aus diesem positiven erst die Begegnung entsteht, erst die Situation, da diese sich dann wiederum austauschen und davon reden wie gut sie's davon haben, sich beratschlagen zu können.

Die entgegengesetzte Haltung ist die des Entsetzens. Entsetzen über diese Welt, ihre Gesellschaft, und alle ihre Bestandteile und Funktionssysteme. Diese Haltung ist von vorne herein gerade nicht "inklusiv" - da sie sich selbst ja gerade nicht in diese Welt integrieren will, der Sozialität und dem Gemeinsinn misstraut. Dieses Misstrauen wird ihr denn auch von der Seite der Beteiligten zur Last gelegt; wie man auch der Unschuld ihre Unschuldigkeit zur Last legen kann, wenn man nur genug Verbrechen begeht. Ob es nun so schlimm daran steht, ist Sache anderer, weitergehender Untersuchungen; hier geht es erst einmal nur um diese Haltung selbst, und um die Frage, in welcher Form die Idee einer "Inklusion" in die Gesellschaft von gerade dieser Tendenz eine öffnende oder schließende Funktion hat, und ob sie letztlich darin nicht sogar notwendig scheitert; ob ihr Erfolg sogar ihre größte Niederlage sein muss, als Eröffnis ihres eignen Skeptizismus in ihr über sich; ob, mit andern Worten, Inklusion des sich Exkludierenden Dialektik ist oder Antinomie, dynamisches oder statisches Moment absoluter Abstoßung.

Das wesentliche Ziel jeglicher "Inklusion" ist Neutralisierung. Etwas aus der Gesellschaft ausgestoßenes ist Moment der Dynamik, auch wenn es Aussätzige sind oder sonstige dem Tode geweihte. Der Verbrecher wird über das Gefängnis "inkludiert", und nicht weniger deutlich jeder andere, da ja "inclusio" wirklich "Einschluss" bedeutete, und es immer noch bedeutet, auch wenn es viele nicht zugeben wollen. Einschlüsse sind ja auch weniger schlimm als Risse, für Struktur und Sichtbarkeit - das inkludierte ist leichter zu übermalen. Und die Malfarbe der Gesellschaft ist ihre inhärente Güte. Sie bescheinigt sich, gut zu sein, weil alle, die an ihr teilhaben, es gut finden oder zumindest meinen, dass es angemessen wäre dies zu sagen. Inklusion endet meist schon bei der schlechten Laune; unwillig dabei zu sein gilt als "unintegriert", und das wird viel eher deutlich gemacht als spätere Fragen der Wortwahl oder des Anzugs; schon dem Kindergartenkind wird es über genommen, die andern und die Gemeinschaft zu verachten. Das Entsetzen ist nun vor allem eben auf jenes gerichtet; gar nicht so sehr auf die Tatsache, dass da manche beisammen sind, sondern vor allem darauf, dass es diese für so unglaublich toll halten, es wäre jemand da, und überhaupt für etwas grundsätzlich gutes, selbst, wenn sie dabei alles weitere zerstören. Denn eben daran setzt die Kritik von Anfang an ja an.

Der Unwille des Kindergartenkindes ist ja schon kein willkürlicher, sondern an einer Situation entstanden, wo der "Spaß" der Kinder mehr dazu diesen soll, den Eltern ein schönes Bild zu verschaffen, als den Kindern Freiheit zu geben; und diese Art der äußerlichen Darstellung ebnet sich ja immer noch weiter ein. "Beobachtung zweiter Stufe" hatte das Luhmann einmal genannt, diese sich verstärkenden kommunikativen Systeme, wo das äußre Element der Kontrolle bereits Einzug in die eigene Wahrnehmung gewinnt. Dieses Element der Verstellung und der Anpassung an Zwang ist wesentliches Merkmal der "Integration" und "Sozialisierung" auch dort, wo sie vorgibt, nett und offen zu sein; ihre dabei geäußerte Zwangsmaßnahme ist dann nämlich gerade, dass man Spaß zu haben und freiwillig zu sein hat. Willenfreiheit selbst wird unter ihr zur Verpflichtung. In ihrem Kontext kann Freiheit vor allem eines heißen: Trotz, Verweigerung; und jenes eben als Beginn eines Entsetzens, dass in dem nicht mitmachen bei der großen Heiligung der Gemeinschaft seine eigentliche Basis findet. Das eigentliche Moment der Freiheit im Angesicht der Gesellschaft besteht darin zu sagen: da mache ich nicht mit, nicht so.

Heißt dieses nun aber dass diese äußere Haltung selbst dazu verdammt wäre, nicht mitzumachen in dem Sinne, nichts davon zu tun, was beim Mitmachen gefordert wird? Aber keinesfalls. Ich kann durchaus mit jemandem reden, ohne dabei "Gemeinschaftsgefühl" zu suchen, und auch ohne es zu finden; es kann mich sogar amüsieren, wenn der andre dann sagt er wäre in guter Gemeinschaft gewesen, wenn eben das ja nicht stimmte, sondern das Gespräch über diese hinausgewiesen hat, vielleicht sogar ohne es mitzubekommen. Denn es hat hierbei das merkwürdige, dass der Punkt, in dem so etwas wie "Verständnis" beginnt, und dabei gerade nicht das übliche Sich-Verstehen der Beteiligten gemeint ist, sich dieses "Verständnis" selbst auflöst und zu Missverständnis wird; und dabei eben die Kommunikaiton immer mehr verstanden wird als missverständlicher, als es dies konkrete Missverständnis nur sein könnte, was ja nur so da ist. Das muss nun genauer ausgeführt werden. Was ist dies Element des Missverständnisses in der Kommunikation, dass es derart die Elemente des Austausches umzukehren in der Lage ist?

Kommunikation ist die Konfrontation von äußrer und innerer Mitteilung, beides bezogen auf das Subjekt, oder auf das System intentionaler Referenzen. Innere Mitteilung besteht darin, wenn ich mir oder einem andern Alter verbundenen direkten Bewußtseins etwas bewußt mache, und das Medium dieser Mitteilung besteht eben darin, dass etwas der Inhalt eines Gedankens ist. Es ist das Verweisen auf so einen Inhalt, der selbst wiederum anderes zum Inhalt haben kann oder aber der Verweis auf etwas unmittelbares ist, was auf psychischer Ebene ein Phänomen nicht des Bewußtseins, sondern der bloßen Perzeption ist, die solcherart zur Apperzeption, d.i. zur Konstitution eines Gegenstandes als eines als-etwas-Erkanntem wird. In jedem Falle aber ist diese Mitteilung direkt, vermittelt durch Erinnerung und Denkakte, und nicht symbolisch oder interpretierend. Wenn ich mich erinnere, dass ich etwas tun wollte, ist das keine Interpretationsaufgabe; es ist schlicht da. Dagegen, in äußrer Mitteilung, sieht es ganz anders aus. Wenn ich jemand anderm mitteilen will, dass ich dieses oder jenes meine, will oder denke, dann muss ich das sprachlich ausdrücken, und es ist keineswegs klar dass dies richtig verstanden wird. Genauer: Wenn ich darüber nachdenke, wird mir ja bewußt, dass ich gar nicht richtig verstanden werden _kann_, wenn richtig verstanden werden so etwas bedeuten würde wie Gedankenlesen, was ja unmöglich ist. Eine gewisse Distanz ist dazwischen immer; und da es hier um identische Übereinstimmung geht, und es nicht einmal ein Maß für Abstände intentionaler Inhalte, was ihren Bezug und ihr Medium betrifft, gibt, so ist ein gewisser Abstand auch schon ein absoluter. In dieser Situation beschreibe ich es meist wie folgt: Kommunikation ist eine Form äußerer, symbolischer Interaktion, in der etwas gesagt wird, so dass dort zwei getrennte subjektive Systeme derart miteinander umgehen, dass sie unmittelbar und unwillkürlich (als Systeme intentionaler Interaktion) die Symbole des andern mit Inhalten ihres eignen Bewußtseins verknüpfen, vermuten dass der andere dies damit gemeint hat, und dabei diese Vermutung selbst _Voraussetzung des faktischen Zustandekommens dieser selben Interaktion ist_. Was meine ich damit? Nehme an, ich rede mit jemandem damit dass ich nachher noch Brötchen kaufen will. Dabei nehme ich an, dass wir beide das Wort "Brötchen" in etwa gleich verstehen; wenn ich dabei anfangen würde, über unser verschiednes Verständnis von Raum und Zeit usw. zu diskutieren, hätte ich bald nichts zu essen. Entscheidend ist hier also, dass ich dieses Missverständnis, was offenbar da ist, wenn ich nachbohre, aus praktischen Gründen ignoriere, und nur deshalb die Kommunikation zustandekommt. Etwas spitzer gesagt, ist Kommunikation vor allem eine Hinwegsehen über gegenseitige Missverständnisse aus den praktischen Vorteilen der Lüge, dass man sich verstanden hätte.

Das Entsetzen über die Gesellschaft entspinnt sich anhand jener Lüge. "Kommunikation", "Sich gut verstehen" etc. aufzulösen, bedeutet auch, sich klar zu machen wie wenig man sich versteht. In der faktischen Konfrontation solcher Art löst sich die Idee der "Integration" in die Gesellschaft mit auf, da sie Integration in eine Lüge ist. Die Lüge besteht nicht einmal darin, nicht gelegentlich aus praktischen Gründen die Kommunikation zu akzeptieren; sie besteht in der Euphorie über die Kommunikation, die Idee, sie repräsentiere Wahrheit. Das konkrete Missverständnis ist sogar weniger missverständlich, da man sich an ihm reiben kann; die Gesellschaft als ganzes ist dagegen das völlig glatte Bewußt-aneinander-Vorbeireden. In solcher Form ist es die perfekte Notlüge, zu der jedoch selten Not ist, auch daran zu glauben. Es ist eine Form, die Konfrontation zu umgehen; anstatt zu sagen, dass man mit jemandem gelegentlich gerne zusammen Dinge tut, und aber ja nicht weiß, warum, sagt man, dass es ein "Freund" sei den man "gut versteht", und glaubt damit viel gesagt zu haben; anstatt sich einzugestehen, dass an vielen Feldern der Tätigkeit es vor allem um Geld und Langeweile geht, wird der Begriff einer "Arbeitskultur" erfunden, wird auch dort "Gemeinschaft" gesucht, und das offensichtliche übertüncht; und insgesamt wird der Riss und die Spaltung, die die Gesellschaft selber _ist_, damit übertönt, dass behauptet wird, manche seltsamen Leute wollten die Gesellschaft erst spalten, die ja doch vorher "Zusammenhalt", d.h. kommunikative Einheit gehabt hätte. Jener Zusammenhalt aber ist nicht der eines Steins, sondern eines Kartenhauses. Es ist die gemeinsame Lüge, nicht die gemeinsame Wahrheit, die Kommunikation bedeutet. "Integration" ist das Versprechen, den andern gut zu behandeln, solange er nur mitmacht und bei guter Stimmung bleibt. Sie ist, in diesem Sinne, exklusiv: exklusiv für alle diejenigen, die das nicht können oder wollen. Ihre Suche nach Wahrheit muss einer Gesellschaft, die Glück und Gemeinsinn für mehr nimmt als absurde Wege, dem Widerspruch im Denken zu entkommen, als etwas falsches erscheinen; und umgekehrt scheint ihr die Auflösung des gesellschaftlichen Verhältnisses Voraussetzung alles echten Denkens. Wie kann man also damit umgehen?

Rein praktisch bin ich ja auf andre angewiesen. Ich kann nicht überleben ohne die, die mir Nahrung, Wohnung, Kleidung, Elektizität etc. zur Verfügung stellen, und soweit es dies nötig macht, muss ich mich also auf die Kommunikation einlassen. Aber die Euphorie über diese ist dadurch nicht notwendig. Es ist möglich diese Verhältnisse als das zu behandeln, was sie nun einmal faktisch sind, als Transaktionen, als formale Verhältnisse. Das ist tatsächlich alles, was hier nötig ist. Entfremdung ist etwas befreiendes gegen den Drang zur Identifikation; es ist ein Eingeständnis, dass man sich nicht versteht, aber doch benötigt. Und von dieser Situation aus kann man dann versuchen, in konkreten Gesprächen die Kunst des Missverständnisses zu Üben; einerseits, um sich im sich-nicht-Verstehen vielleicht doch näher zu kommen, als Annäherung an ein absolut unnahbares Geheimnis, andrerseits aber, um sich desto eher in Bewußtsein zu rufen, dass es die eine, ungeteilte, zusammenhaltende Gemeinschaft, in die jeder zu integrieren und inkludieren und damit vollends mit eingeschlossen worden wäre, nicht nur nicht gibt, sondern dass diese Offenheit der Welt, und des andern der Kommunikation, den ich nur annehme aber ja doch weiß nicht kennen zu können, etwas so viel befreienderes ist und schöneres auch im Antlitz der erscheinenden Fülle der Ideen und Götter, als eine ja doch nie ganz aufgehen könnende, und dabei doch stets noch unbefriedigende Relation des Verstehens und des Verstandenen, als eines Innen und Außen von Welt und Nicht-Welt, die sich genauer besehen eben nur darin versteht, dass sie nur die zu sich zählt, die dabei mitmachen, zu sagen, sie hätten sich verstanden.

Diese Kritik aber zu ermöglichen, ist positive Folge der Kommunikation unter Bedingungen der Kritik der Kommunikation; und es scheint mir demnach, das "Inklusion" derjenigen, die der Lüge und des Mitmachens unfähig sind - besonders aber der, die den Sinn des Sozialen jenseits des nackten Überlebens kaum greifen können - zu ihrem Gegenteil wird, und damit doch, wider Willen, zur Erfüllung der Wahrheit ihrer Funktion: zur Exklusion der Gemeinschaft als ganzer und ihrem Ende; nicht als Zerstörung ihrer Funktion zum Leben, sondern als Ende des Zwangs zur Lüge über sie, dass sie irgend eines sei als nur dies, mit Müh und Not und Ignoranz des Andern doch an ihm überleben zu können das (Un-)Glück zu haben, als Gelingen im Aneinander-Vorbeireden, ob man's will oder nicht, aber doch so, dass man es nicht gut finden muss, oder auch nur verstehen, damit es passiert. Dieser ihr innrer Widerspruch ist ihre Dynamik, oder das, was man als Dialektik der Sozialität bezeichnen kann; man kann nur hoffen, dass sie nicht solche Kräfte offenbart, dass sie ihre eigene Möglichkeit immer wieder unmöglich macht, sei's durch Rückzug von der kritischen Kommunikation durch ihre eigne Kritik oder durch im Vollzug geschehende Assimilation an sie in ihrer Form. Dass dies nicht geschehe kann ich nicht wissen, aber doch zumindest so handeln, als hoffte ich es, auch ohne Zuversicht, aber mit Wille.